Irgendwann musste ja auch mal Russland angegriffen werden. Man verzeihe mir dieses Wortspiel. Mehr als die Riesen-Metropole Moskau reizte mich aber schon immer Sankt Petersburg mehr. Dazu kam, dass der FK Zenit ja am neuen Stadion bastelt. Dieses sollte eigentlich längst fertig sein, aber mit geplanten Fertigstellungs-Terminen von Fußballstadien ist das ja je nach Nation so eine Sache. Jedenfalls lag mir das alte 'Petrovskiy Stadion' sehr am Herzen, weniger wegen seiner relativ einfachen Bauweise als viel mehr wegen der riesigen Fliegenklatschen-Flutlichtmasten. Ergänzt werden sollte die Reise mit einem Ausritt nach Karelien, der Region nördlich von Sankt Petersburg. Und hier kommt mein Vater ins Spiel. Ich will nicht zu weit ausholen... vor beinahe zehn Jahren war ich mit meinem Dad in Poznan. Die Reise hatte damals klar familiengeschichtlichen Hintergrund. Der Vater meines Vaters, also mein Großvater, ist im zweiten Weltkrieg im 'Kessel von Posen' in den entscheidenden Tagen der Schlacht um die Stadt verschollen. Mein Vater wurde im Dezember 1942 geboren, der Kampf fand im Januar 1945 statt, ergo hat er seinen Vater nie wirklich kennengelernt, was ich grundsätzlich sehr traurig finde. Anhand von Briefen meines Großvaters, die bis in die letzten Tage per Feldpost geschickt wurden, und Informationen von Zeitzeugen, ist bekannt, an welchen Stellen in Posen mein Opa zuletzt eingesetzt war. Weiterhin hat mein Vater mit unglaublicher Energie versucht, mehr über das Schicksal seines Vaters herauszufinden, hat Veteranentreffen besucht, Kameraden befragt - was oft nicht einfach war, da diese das in diesem üblen wie sinnlosen Kampf Erlebte zu verdrängen versuchten und 'mauerten' - und in Archiven gesucht.
Das Ergebnis ist eine eindrucksvolles wie bedrückendes Zeitdokument in Form mehrerer voller Aktenordner. Diese Recherche ermöglichte es uns, damals die Orte in Poznan aufzusuchen, wo mein Opa eingesetzt war. In den letzten Tagen der Schlacht reißt dann die Wissens-Linie. Genaue Kenntnisse gibt es nicht mehr, ein mögliches Szenario ist, dass mein Opa im Gefecht gefallen ist. Es gibt aber auch noch ungenaue, unverbriefte Aussagen von Personen, die meinen Großvater noch in einem der Gefangenenlager in der Nähe von Petrozavodsk am Onega-See gesehen haben wollen, wohin der Großteil der in Poznan in Kriegsgefangenschaft geratenen deutschen Soldaten deportiert wurde. Als wir damals aus Poznan zurückgekehrt waren, hatten wir uns gesagt, dass wir - um einen Schlussstrich ziehen und den Ordner endgültig zuklappen zu können - eigentlich noch nach Petrozavodsk reisen müssten. Nicht, um neue Erkenntnisse zu bekommen, die eh nicht zu erwarten waren, sondern um die Nachforschungen emotional abschließen zu können. Daher war für mich klar, dass ich diese Reise unbedingt mit meinem Vater angehen muss solange dass noch gut machbar ist, denn der alte Herr ist mittlerweile ein echter Senior. Also gab es kleinen Grund, länger zu warten. So suchte ich ein Wochenende, an dem sowohl für Zenit als auch für den in Petrozavodsk ansässigen Drittligisten Karelia ein Heimspiel angesetzt war. Pokern war mal wieder die Devise, denn für die Beantragung des notwendigen Visums musste ja eine gewisse Frist gewahrt werden. Dementsprechend blieb nur übrig, alles zu veranlassen und dann auf eine günstige Terminierung zu hoffen.
Da man für die Ausstellung des Touri-Visums eine Einladung benötigt, erschien es sinnvoll, eine Agentur zu bemühen. König-Tours bekam den Zuschlag, da diese sich schon beim Iran-Visum als fähig erwiesen hatte. Für 89 Euro pro Nase gab es denn gewünschten Kleber in den Reisepass. Dann galt es eine gute Flug-Kombination aus 'nicht zu teuer' und 'nicht zu umständlich' zu finden. Nach diversen Überlegungen ab Amsterdam oder mit Umstieg in Berlin oder Riga schmiss ich alles über den Haufen und buchte die Direktverbindung mit 'Rossiya', einem Ableger der 'Aeroflot' ab Düsseldorf. Dafür waren zwar über 300 Eusen pro Nase fällig, aber einen über siebzig Jahre alten Mann muss man ja nicht mehr strapazieren als nötig. Hotels waren auch schnell gebucht, blieb noch die Sorge betreffend des Zenit-Matches. Als ich die Reise plante, war Zenit recht abgeschlagen ohne große Meisterschafts-Hoffnungen. Meine Buchung muss die Mannschaft aber derart motiviert haben, dass sie darauf eine Siegesserie startete. Zwar finden meistens nur um die 16tsd Zuschauer in das 21tsd Personen fassende 'Petrovskiy', aber die Kombination realistische Meisterschafts-Chance und letztes Heimspiel bereitete eine wenig Unbehagen. Der Verein bietet aber einen vorbildlichen Online-Sale an, in dem man sogar einen Ticket-Alarm aktivieren kann, der einen über den Vorverkaufsstart informiert. Tickets in gescheiter Position waren dann gar nicht mal so günstig. Am Rande der Geraden wurden umgerechnet knapp 25 Euro pro Kopf fällig. Fragt man sich, wie die angeblich so schlecht verdienenden Russen den Deckel bezahlen. Die letzte offene Frage bot dann die anvisierte Drittliga-Partie. Die uhrzeitgenauen Terminierungen gibt es erst wenige Tage vorher. Anhand der Saison-Historie konnte man aber erahnen, dass zumindest die angegebenen Spieltage beibehalten werden. Als dann aber alle Spiele ihre Anstoßzeit bekommen hatten, nur die 'meinige' noch offen war, schwante mir schon wieder Böses, denn im Verlieren des Spielplan-Pokers bin ich ja ganz groß. Letztlich hatte der Verband aber ein Einsehen und gewährte mir den Kick.
Fr. 13.05., 20:15 - Deutschland vs Weissrussland 5:2 (Eishockey-WM), 5.275 Zuschauer (150 Deutsche/ 4.000 Weißrussen)
Entspannt um kurz nach acht starteten wir mal Richtung Flughafen. Auto am Mülheimer Bahnhof abgestellt und dann weiter mit der S-Bahn. Witzigerweise prangt an einem Jazz-Club in der Mülheimer City ein Richtungs-Wegweiser nach Sankt Petersburg mit Entfernungsangabe, den ich schon hundert Mal passiert habe.
Heute hatte er endlich seinen großen Tag. Die Maschine ging pünktlich - die Flugzeit beträgt 2:40 Stunden - und um 14:30 Uhr Ortszeit (+1 Stunde zur MEZ) trafen wir am Flughafen Pulkowo ein. Die Einreise nach Russland war auch easy going. Normal wäre ich mit Bus und Metro zum Hotel gefahren, aber mit Rücksicht auf den alten Herrn wurde das Taxi gewählt. 1600 Rubel, etwas mehr als 20 Euro sind für die mehr als halbstündige Fahrt auch erträglich.
Sankt Petersburg begrüßte uns mit bestem Wetter, was sich in den kommenden Tagen kaum ändern sollte. Das 'M-Hotel' liegt unweit des zentralen Boulevards 'Nevskiy Prospekt' und stellte sich als guter Stützpunkt heraus. Wir vergeudeten keine Zeit und wagten mal den ersten Schnupperkurs. Mein Dad hatte dann auch endlich verwundert festgestellt, dass die Russen schon Autos haben und nicht mehr mit Pferdekarren unterwegs sind und dass es eine Wasserversorgung und elektrisches Licht gibt. Okay, etwas überspitzt formuliert, aber möglicherweise lagen da seinerseits doch ein paar falsche Vorstellungen zu Grunde. Vorbei am Kaufhaus 'Gostiniy Dvor' liefen wir zur 'Kasaner Kathedrale', einer großen orthodoxen Kirche, die im ersten Jahrzehnt des 19.Jahrhunderts im Stil des Petersdom errichtet wurde. Benannt ist die Kathedrale nach der Gottesmutter von Kasan, die als Schutzheilige Russlands verehrt wird. In der russisch-orthodoxen Kirche haben die Gläubigen einen sehr starken Bezug zu Maria.
Für die Nahrungsaufnahme landeten wir in einer typisch russischen Keller-Spelunke. Die russische Küche ist ja sehr Fleisch- und Kartoffel-lastig, was ich persönlich ja top finde. Nach 'Kharcho', 'Solyanka' und 'Skoblyanka' war es an der Zeit sich zur 'Yubileyniy Arena' aufzumachen. Diese liegt übrigens genau gegenüber des 'Petrovskiy Stadion'.
Ich hatte erst wenige Tage vor dem Abflug festgestellt, dass zur Zeit in Sankt Petersburg und Moskau die Eishockey-WM über die Bühne geht. Dieses Turnier bekommt ja in Deutschland auch irgendwie kein Schwein mehr mit. Dass die deutsche Mannschaft in Sankt Petersburg spielte, war natürlich ein willkommener Umstand. Ein Spiel kann mal ja mal mitnehmen. Das Sonntags-Spiel gegen die Amis fand ich unpassend, da dann beinahe der ganze Tag für Sportveranstaltungen drauf gegangen wäre. Wollte ich meinem Dad nicht antun. Heute waren die Weißrussen der Gegner. Online waren nur noch Tickets für die teuerste Kategorie für über 50 Euro zu haben. Da die Halle aber bisher immer nur zur Hälfte gefüllt war, musste vor Ort doch irgendwas gehen. Im Ticket-Office waren aber auch nur noch die teuren Karten zu haben. Da eine große Anzahl Weißrussen angereist war, war die Halle schon gut verkauft. Also den Vadder vorm Eingang geparkt und mal allein zurück zur Metro-Station um zu schauen was der Schwazzzmarkt so hergab. Da war die Situation auch alles andere als rosig. Es suchten noch einige andere Deutsche und die Anzahl der Anbieter hielt sich in Grenzen. Nach langem Hin und Her, viel Gefeilsche und Gebluffe, bekam ich zwei Tickets der besten Kategorie zum halben Preis. Mehr (oder weniger) ging nicht.
Die Halle war dann tatsächlich annähernd ausverkauft, was allerdings bei einem Fassungsvermögen von 7.000 im krassen Widerspruch zur offiziellen Zuschauerzahl von 5.275 Personen stand. Die Belaruskis stellten mal locker an die 80 Prozent des Publikums. Deutsche waren insgesamt etwa 150 auszumachen. Ein kompakter Block von etwa 100 Leuten und ein paar versprengte Einheiten. Waren aber viele Eishockey-Neckermänner dabei, die ab und an mal (sitzend!) ein Liedchen trällerten und ansonsten nicht groß in Erscheinung traten.
Die Arena ist nichts besonderes. Einfach ein rundes Ding, dessen Ränge zu den Kopfseiten etwas abfallen. Dort ist dann auf jeder Seite noch ein 'Balkon' aufgehängt und das war es schon. Ich mag auch Eishockey in beheizten Hallen mit gepolsterten Sitzen nicht. Vielleicht ist das ein mögliches 'Westbahnhof-Trauma' aus früheren Zeiten, als ich neben dem glorreichen RWE noch den Eishockey-Verein der geilsten Stadt der Welt supportet habe. Wenn unten der Puck übers Eis rutscht, muss es mir ein wenig frösteln und mein Atem beim Sprechen zu sehen sein, sonst fühle ich mich in einer Eishalle nicht wirklich wohl. Eishockey im T-Shirt zu verfolgen geht jedenfalls überhaupt nicht! Das deutsche Team ging ab wie Stalins Rote Armee bei der Rückeroberung der Ostfront. Nach knapp zehn Minuten stand es 3:0 und ich dachte schon, die schießen die armen Weißrussen nun komplett aus der Halle.
Mit diesem Resultat ging es in die erste Pause und im zweiten Drittel zeigten sich Lukashenkos Jungs besser aufgelegt. Durch eine Unachtsamkeit in der Verteidigung kamen sie zum Anschluss und gaben nun richtig Gas, aber die Deutschen gaben wenig später die richtige Antwort und stellten den alten Abstand mit einer Fackel von der blauen Linie wieder her. Im letzten Drittel schien eigentlich alles ungefährdet, aber dann legte sich der bisher spitzenmäßig aufgelegte NHL-Goalie Greiss das Ei das Jahres ins Netz. Einen verunglückten, eigentlich am Tor vorbei rutschenden Pass der Weißrussen wollte er locker mit der Kelle stoppen, verkantete diese aber und der Puck sprang ins Netz. Was für eine Beule! Das gab den Osteuropäern natürlich noch mal Luft und bei zwei Unterzahlspielen der Deutschen wurde es auch verdammt eng. Bei eigener Unterzahl nahmen die Weißrussen dann den Schnapper raus und Deutschland gelang nach Scheibengewinn der Empty-Netter zur Entscheidung. Damit stand für die deutsche Mannschaft das Tor zum Viertelfinale nun weit sperrangelweit offen, durch das sie ja dann am Sonntag mit dem Sieg gegen die Amis auch durch spazieren sollten. Wir fuhren mit der Metro zurück in die Ecke um unser Hotel, nahmen uns noch ein paar Pivo und dann die nötige Mütze Schlaf.
Sa. 14.05. - Katharinenpalast
Um halb neun ließen wir den Wecker schellen. Das Frühstück war in Ordnung und danach brachen wir ins etwa dreißig Kilometer südlich gelegene Pushkin auf.
Dafür mussten wir mit der Metro (35 Rubel = circa 45 Cent) zunächst zum 'Vitebskiy vokzal', den wir mit der Metro ansteuerten. Die Sankt Petersburger Metro ist eine der tiefstgelegenen der Welt, was dem Umstand geschuldet ist, dass der Untergrund nahe der Oberfläche durch das Newa-Delta sehr morastig ist und man beim Bau erst in haltbares Gestein vordringen musste. Für den Fahrgast hat das zur Folge, dass schier endlose Rolltreppen genutzt werden müssen, bis er auf Gleisebene angekommen ist. Sankt Peterburg verfügt über mehrere Bahnhöfe, von denen die Züge in die entsprechenden Himmelsrichtung starten. Vom 'Vitebskiy' fuhren wir mit der 'Elektrishka', wie die Vorortzüge heißen, weiter. Auch diese knapp 45-minütige Fahrt kostete gerade mal 55 Cent. Der richtige Bus stand vor dem Bahnhof gerade bereit und brachte uns für 30 Rubel in unmittelbare Nähe des 'Katharinenpalastes', der einstigen Residenz der russischen Zaren. 120 Rubel Eintritt in den Park und noch einmal 580 Rubel für den Palast waren hier fällig.
Insgesamt etwas mehr als neun Euro finde ich fair für so eine Attraktion. Es wird immer nur eine bestimmte Anzahl Besucher im Abstand von 15 Minuten in den Palast eingelassen, was eine weitestgehend angenehme Besichtigung ermöglicht. Der Palast wurde im Zweiten Weltkrieg weitestgehend zerstört, danach aber wieder beinahe originalgetreu aufgebaut.
Prunkstück des Palastes ist das wahrhaft sagenumwobene Bernsteinzimmer, das dem Zaren im 18.Jahrhundert vom König von Preußen geschenkt wurde. Die originale Einrichtung, die Wandverkleidungen und Möbel wurden während des Krieges demontiert und nach Königsberg, dem heutigen Kaliningrad, gebracht und sind seit dem Ende des Krieges verschollen. Seitdem ranken sich Gerüchte und Vermutungen um den Verbleib des Interieur. Zahlreiche Personen haben beinahe ihr ganzes Leben an der Suche danach ausgerichtet.
Bis heute erfolglos. Im Jahr 2003 wurde eine dem Originalzustand nahe kommende Nachbildung des Zimmers der Öffentlichkeit präsentiert und kann heute im Palast besichtigt werden. Fotografieren ist in diesem Raum strengstens verboten. Sobald man die Kamera zückt, kommt eine Babuschka angerannt und klopft einem auf die Finger. Aber irgendwie geht's ja immer. Nach der Besichtigung des Palastes spazierten wir durch den riesigen Park, wo man weitere kleinere Residenzen betrachten kann, tranken mal einen Kaffee und machten uns dann auf den Rückweg, den wir in umgekehrter Weise absolvierten. Ein Stündchen chillten wir im Zimmer und schauten uns dann das sehr weitläufige Kaufhaus 'Gostiniy Dvor' von innen an und steuerten danach ein georgisches Restaurant an, dass ich entdeckt hatte. Die georgische Küche hatte ich von der entsprechenden Tour noch sehr positiv in Erinnerung und auch dieses Mal wurde ich nicht enttäuscht. Im Anschluss sackten wir wieder im Bierlokal des Vorabends ab und holten uns die nötige Bettschwere für die Nacht.
So. 15.05. - Zenit Sankt Petersburg vs FK Lokomotive Moskau 1:1 (Pemjer Liga), 17.407 Zuschauer (700 Gäste)
Nach dem Frühstück war der erste Programmpunkt der Besuch der Heiligen Messe in der katholischen Kirche 'St.Katharinen', die nur zehn Minuten Fußweg vom Hotel direkt am Nevskiy Prospekt liegt. Ich möchte mich ja durchaus als gläubigen Katholiken bezeichnen.
Allerdings habe ich trotz katholischer Erziehung die Nähe zum christlichen Glauben etwas verloren, was vorrangig dadurch bedingt ist, dass ich mich nicht recht mit der Positionierung der Kirche zu bestimmten Themen einverstanden erklären kann. Wirklich fundierte Meinung kann ich mir aber auch nicht erlauben, da ich meinen Glauben eher selten praktiziere. Mein Vater ist aber seit jeher aktiver Katholik und so war es natürlich eine Selbstverständlichkeit herauszufinden, wo am Sonntag eine Messe in englischer Sprache gehalten wird und dass ich ihn dann dorthin begleite. Nach der Messe beschäftigten wird uns dann mal mit einigen Sehenswürdigkeiten von Sankt Petersburg, oder 'Piter', wie die Stadt von ihren Bewohnern auch kurz genannt wird.
Die Stadt ist schon das zweite Sankt Petersburg, dass ich besuchte, denn Ende der 90er war ich mal in Florida und dort unter anderem in Saint Petersburg an der Tampa Bay. Dass Piter die zweitgrößte Stadt Russlands ist, kann man sich ja noch beinahe denken. Dass die Stadt mit ihren fünf Millionen Einwohnern aber die fünftgrößte des europäischen Kontinents ist, hat man ja nicht so unbedingt auf dem Schirm. Sankt Petersburg hat eine bewegte Geschichte hinter sich, obwohl sie erst 1703 durch Zar Peter gegründet wurde.
Peter der Große hat die Stadt übrigens nicht nach nicht selbst benannt, sondern nach dem Apostel Simon Petrus, der sein Schutzheiliger war. Von 1914 bis 1924 trug die Stadt den Namen Petrograd und wurde dann zu Ehren des Gründers der Sowjetunion in Leningrad umbenannt. Nach dem Ende der Sowjetzeit wurde mit knapper Mehrheit die Rückbenennung erreicht. Der umliegende Verwaltungsbezirk (Oblast) trägt weiter den Namen Leningrad. Das Stadtbild folgt dem Neoklassizismus, der für den Sozialismus ja typisch ist. Nach dem Krieg lag vieles in Schutt und Asche - Hitler hatte vor, Sankt Petersburg dem Erdboden gleich zu machen - aber mit viel Geld und Mühe wurde die Stadt wieder aufgebaut. In den 50ern und 60ern wurden dann aufgrund des Bedarfs neuen Wohnraums die ebenfalls typisch sozialistischen Wohnsilos stadtteilweise hochgezogen. Das alte Sankt Petersburg ist aber definitiv eine der sehenswertesten Städte, die ich bisher besucht habe. Der Fluss Newa hat nachhaltigen Einfluss auf das Stadtbild und vertieft das eh schon maritime Flair der Metropole.
Da ein langer Tag vor uns lag und wir nicht schon zu früh unsere Kräfte verschleißen wollten, entschieden wir uns, nicht zu viel herum zu laufen, sondern stattdessen am 'Gostiniy Dvor' den 'Hop on hop off'-Bus in Anspruch zu nehmen. Mit dem ging es dann zunächst den 'Nevsky Prospekt' stadtauswärts entlang bis zum großen Kreisverkehr am 'Moskovskiy vokzal', dessen Außenfassade eher an ein Kaufhaus als einen Bahnhof erinnert. Von dort fuhr der Bus wieder zurück und klapperte der Reihe nach die großen Sehenswürdigkeiten ab. Am Russischen Museum vorbei zur 'Michaelsburg', einer weiteren Zarenresidenz. Weiter durch enge Gassen an die Newa und an dieser entlang.
Am zur 'Eremitage' gehörenden 'Winterpalast' und dann an der 'Admiralität' vorbei zum Reiterdenkmal 'Peter der Große'. Dort abgebogen zur 'Isaakskathedrale'. Diese ist die größte Kirche in Sankt Petersburg und mit über 100 Metern Höhe einer der größten sakralen Kuppelbauten der Welt. 10tsd Menschen bietet die Kirche Platz. Heute werden aber nur selten Gottesdienste zelebriert und die Kathedrale fungiert überwiegend als Museum. Die Route führte weiter zum 'Marienpalast', heute Sitz der Sankt Petersburger Justiz, und von dort wieder zur 'Kasaner Kathedrale'. Dort stiegen wir aus gingen am 'Gribojedow-Kanal' entlang zur nahen 'Auferstehungskirche' oder auch 'Blutskirche' oder 'Erlöserkirche'.
Diese ist als einziges epochales Gebäude der Innenstadt nicht im Stil des Neoklassizismus erbaut, sondern folgt der altrussischen Kunst mit bunten und vergoldeten Zwiebeltürmen. Wir sahen uns diesen beeindruckenden orthodoxen Sakralbau auch von innen an, wo aufwändige Decken- und Wandmalereien und diverse kunstvolle Ikonen zu besichtigen sind. Von hier liefen wir zum Newa-Ufer, von wo man zur großen Zitadelle 'Peter und Paul' herüber sehen kann. Wir spazierten von dort hinter dem 'Winterpalast' her und um diesen herum auf den 'Palastplatz', um den herum ein sehenswertes Gebäude-Ensemble erbaut wurde. Nun hingen uns die Mägen aber gewaltig in den Kniekehlen und wollten eigentlich das Restaurant vom ersten Abend aufsuchen, aber das meldete tatsächlich nachmittags um 17:00 Uhr restlos voll! Wer zum Teufel geht denn um diese Uhrzeit essen? In der Nebenstraße wurden wir dann fündig und aßen keineswegs schlechter. Nun aber endlich Fußball.
Von der 'Admiralteyskaya', übrigens mit 102 Metern unter der Erde der tiefstgelegene Bahnhof des Metro-Systems, ist es nur eine Station zur 'Sportivnaya'. Das 'Petrovskiy' wird von seinen mächtigen Flutlichtern quasi beherrscht. Diese Teile sind echt der Hammer. Außerdem weiß der rund um das Stadion angelegte Säulengang zu begeistern, der die 1925 erbaute Spielstätte quasi an den Baustil der Stadt anpasst. Bis 1993 hörte die Bude noch auf den Namen 'Lenin-Stadion'. Der heutige Name erinnert an die Insel auf der das Stadion steht. Im Inneren ist der Ground reichlich unspektakulär - ein gleichmäßiges Oval mit einem kleinen überdachten Bereich.
Die Spielstätte füllte sich mit knapp 17.500 Zuschauern etwas besser als sonst. Wie der Verein nach Fertigstellung der neuen Arena über 60tsd Leute anlocken will, ist mir persönlich ein Rätsel. Zwar hat Zenit auch früher schon im wundervollen großen 'Kirow Stadion' (das übrigens schändlicher Weise für die neue Arena weichen musste!) gezaubert, aber dieses ja auch nur seltenst gefüllt. Mit dem neuen Stadion ist es so ein bisschen wie die Geschichte des Berliner Flughafen-Projektes BER. Im Jahr 2007 begann man unmittelbar nach Abriss des 'Kirow' mit dem Bau und wollte 2009 fertig sein. Es gab aber immer wieder Verzögerungen, u.a. wegen der schwierigen Voraussetzungen mit dem Grundwasser-durchsetzten Baugrund, so dass die Fertigstellung immer wieder verschoben werden musste. Die Baukosten sind regelrecht explodiert. Aus ursprünglich budgetierten 200 Mio Euro ist mittlerweile beinahe eine Milliarde geworden! Der Bürgermeister der Stadt rechtfertigt das Bauprojekt mit der Begründung, dass man ja nicht nur für Sankt Petersburg, sondern für ganz Russland ein Stadion baue.
Zwischendurch war das heutige Spiel mal als allerletzter Kick im 'Petrovskiy' geplant, aber mittlerweile ist der Umzug wieder auf 2017 verschoben. Langsam wird es ja auch eng, denn für den ein Jahr vor der WM stattfindenden Konföderationen-Pokal soll die Bude schon genutzt werden. Für Zenit ging es heute darum, die theoretische Titel-Chance zu wahren. Dabei war man allerdings von den Ergebnissen auf den anderen Plätzen abhängig. Die Zenit-Kurve eröffnete die Partie mit einer Choreo zum Pokalsieg, den die Mannschaft einige Tage vorher errungen hatte. Nachdem die Choreo-Zutaten entfernt worden waren, wurde das fette Zenit Sankt Petersburg-Banner an den Zaun geheftet, dass dann die ganz Kurve umspann. Ich finde diese riesigen, eigentlich schlichten Banner, auf denen dann nur der Vereinsname prangt, einfach am wirkungsvollsten. An diese Aussagekraft reichen die detailverliebten aber eben kleineren Banner einfach nicht heran.
Aus Moskau waren etwa 700 Leute angereist, von denen die aktiven erst einmal eine Oberkörperfrei-Aktion starteten. Sowohl im Heim- als auch im Away-Bereich das ganze Spiel über Bewegung und es waren ständig Gesänge und Schlachtrufe zu vernehmen, richtig laut wurde es aber selten. Man hörte diese tiefkehligen Stimmen, aber hatte irgendwie den Eindruck, dass die Protagonisten mit angezogener Handbremse supporteten. Das hat mich an meinen Besuch in Weißrussland vor einigen Jahren erinnert, wo ein sehr gut gefüllter Dinamo Minsk-Sektor ähnlich unterdrückte Anfeuerung von sich gegeben haben. Sind die russischen Sänger-Stimmen so tief, dass man keinen richtigen Orkan rausfeuern kann? Zenit ging durch einen fragwürdigen Elfmeter in Führung und fing sich durch einen wesentlich deutlicheren Strafstoß mit dem Pausenpfiff den Ausgleich. Zum Beginn der zweiten Hälfte feuerte die Zenit-Kurbe noch eine blaue Rauchwolke in den Himmel. Die Partie wollte aber nicht mehr so richtig Fahrt aufnehmen oder beide Teams neutralisierten sich einfach. Für Lokomotive ging es eh um nichts mehr, seit man sich mit einer satten Niederlagen-Serie aus dem Rennen um die Meisterschaft verabschiedet hatte und bei den Gastgebern vermisste man auch den letzten Glauben an eine bestehende Titel-Chance. So blieb es beim Unentschieden und Zenit war damit dann auch endgültig aus dem Rennen, da die Konkurrenz von CSKA und aus Rostow ihre Partien gewinnen konnten
Der Schlusspfiff war für uns der Startschuss. Bei den wartenden Taxen erwischten wir so ne Art Sechser im Taxi-Lotto, denn der von uns erwählte Mann sprach perfekt Englisch, da er eine Zeit lang in den Staaten gelebt hatte. Das Gespräch kam auf die Innenpolitik und er war über den Präsidenten der russischen Föderation 'voll des Lobes'. Oder auch nicht. Wir ließen uns zum Hotel bringen, wo wir am Morgen unser Gepäck hatten einschließen lassen. Von dort ging es mit dem nächsten Taxi zum 'Ladozshky vokzal', dem Bahnhof, von dem Züge nach Finnland, in den Ural und nach Nord-Russland abfahren. Offenbar meinte der Fahrer, wir wären knapp dran, anderenfalls ist schwer nachzuvollziehen, warum er mit hundert Sachen und mehr durch die Stadt bretterte. Am 'Ladozshky' mussten wir dann doch noch ein Stündchen überbrücken - hatte geglaubt, wir würden länger dorthin brauchen - was bei einem kühlen 'Baltika' kein Problem darstellte, bevor wir den Nachtzug nach Petrozavodsk entern konnten. Ich hatte für uns ein 2er-Abteil gebucht. Wie gesagt - mit dem alten Herrn lagen andere Ansprüche zugrunde als auf einer 'normalen' Tour - auch wenn ich nicht dran zweifle, dass der Mann in der Lage ist, auf einfachere Art und Weise zu reisen. Der Zug war neueren Datums und recht modern ausgestattet. Sogar ein kleines Flachbild-TV-Gerät war in jedem Abteil vorhanden. Es war auch nicht ungemütlich mit einer richtigen Bettdecke und zwei fetten Daunenkissen, aber irgendwie fühlte ich mich meiner sozialistischen Eisenbahn-Romantik beraubt. Die alten Waggons, mit richtigen Web-Teppichen und Rüschen-besetzten Vorhängen ausgestattet, gefielen mir irgendwie besser. Um 23:20 Uhr ging es pünktlich los.
Mo. 16.05. - FK Karelia Petrozavodsk vs FK Dnepr Smolensk 0:0 (2.Division Zapad), 400 Zuschauer (5 Gäste)
Und genauso pünktlich kamen wir um 7:00 Uhr in Petrozavodsk an und auch hier empfing uns strahlender Sonnenschein. Die Stadt liegt ungefähr auf einem Breitengrad mit den Färöer Inseln, also schon ganz gut nördlich.
Da wir keine Eile hatten, legten wir die etwa zweieinhalb Kilometer zum gebuchten 'Onega Castle Hotel' zu Fuß zurück. So konnten wir direkt die ersten Eindrücke der langsam erwachenden Stadt aufsaugen. Petrozavodsk ist etwa 400 Kilometer nordöstlich von Sankt Petersburg am westlichen Ufer des Onegasee gelegen und zählt 250tsd Einwohner. Auch hier begegnet einem ständig der Baustil des Neoklassizismus, aber es gibt auch moderne Gebäude. So steht zum Beispiel direkt neben dem Bahnhof ein nagelneues Park Inn-Hotel der Radisson-Kette.
Auch eine ‚Altstadt‘ gibt es. Dabei handelt es sich um ein aus traditionellen Holzhäusern bestehendes Viertel. Kurz vor unserem Hotel sprach uns dann ein etwas verwahrlost wirkender Mann in gutem Deutsch an. Es handelte sich um einen Obdachlosen. So ganz schlau wurden wir nicht aus seiner Story, aber es ist möglich, dass es sich um einen Nachkommen eines Kriegsgefangenen handelte, denn es sind ja durchaus Deutsche nach dem Ende ihrer Gefangenschaft in Russland geblieben, weil sie dort das große Glück fanden.
Wir gaben ihm einige Rubel und gingen zum Hotel. Dort konnten wir glücklicherweise schon einchecken und mit einer Dusche die noch schlummernden Körperfunktionen aktivieren. Nach einem Frühstück überlegten wir dann, wie wir den Tag gestalten wollen und zogen los. Der erste Weg führte uns zum nahen Rathaus um das Amt für Stadtgeschichte ausfindig zu machen. Wie erwartet, hatten wir hier in der 'Provinz' etwas mehr Mühe uns in englischer Sprache zu verständigen, aber der Pförtner war wirklich bemüht und fragte einfach Passanten ob sie übersetzen könnten. Irgendwann hatten wir dann einen Zettel in der Hand, der uns in das 5.Stockwerk in Raum 519 wies. Dort verstand uns wieder niemand aber, eine Dame nahm uns an die Hand lieferte uns zwei Räume weiter ab, wo ein junger Mitarbeiter sehr gutes Englisch sprach. Wie einleitend erwähnt, hatten wir keinerlei Erwartungen, irgendwelche neuen Erkenntnisse hinsichtlich des Verbleibs meines Großvaters zu erlangen. Auch wenn es immer noch Dokumente gibt, die bis heute nicht ausgewertet wurden, ist da mit hoher Wahrscheinlichkeit nichts mehr zu holen. Und selbst wenn er noch nach Karelien gekommen wäre, dürfte das Schicksal ungeklärt bleiben. Die Gefangenen mussten unter menschenunwürdigen, schwersten Bedingungen bei tiefsten Minusgraden Arbeiten verrichten und waren vorher in der Regel ihrer dicken Mäntel und Stiefel beraubt worden, so dass viele nur wenige Tage überlebten.
Wer im Wald verstarb wurde liegen gelassen und am nächsten Tag war nicht mehr viel übrig, weil sich die Wölfe die Verstorbenen holten. Uns ging es darum, allgemein mehr über die damalige Situation zu erfahren. Wir erklärten dem jungen Mann den Grund unseres Besuchs in der Stadt und dass uns interessiert, ob und was über die Gefangenenlager bekannt sei und ob es möglicherweise noch Ruinen oder Bauten gebe, die man besichtigen könne. Ich hatte zwar auch nicht damit gerechnet, dass wir auf Ressentiments stoßen würden, wenn wir in der Kriegsgeschichte kramen, dafür ist das alles zu lange her und die gegenwärtigen russischen Generationen haben damit genau so viel zu tun wie wir. Aber dass uns eine so große Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit entgegen schlagen würde, hätte ich auch nicht erwartet. Der Mitarbeiter hörte sehr aufmerksam zu, machte sich Notizen und sprach dann mit seiner ebenfalls im Raum anwesenden älteren Kollegin. Diese griff zum Hörer und wenig später hatten wir für 15:00 Uhr am Nachmittag einen Termin bei der Direktorin des Stadtarchivs. Tolle Sache. Ich bezweifle, dass das umgekehrt in Deutschland genauso gelaufen wäre. Da wär man wohl schon vom Pförtner verjagt worden.
Es war nun gerade Mittag, also hatten wir reichlich Zeit. Es gibt etwas mehr als 60 Kilometer entfernt mitten im Onega-See eine Inselgruppe. Eine der Inseln ist 'Kishi'.
Dort gibt es ein Freilichtmuseum, dass sehenswert sein soll. Da die Jahreszeiten in der hiesigen Region stark unterschiedlich und die Winter verdammt ungemütlich sind, wird die Insel nur saisonal mit diesen schnellen Tragflächen-Booten bedient. Ich hatte morgens im Hotel darum gebeten, die Abfahrtszeiten zu erfragen und zur Antwort bekommen, dass in den kommenden beiden Tagen aufgrund starker Winde nicht gefahren werden kann. Damit wollte ich mich nicht zufrieden geben. Also liefen wir am Ufer entlang zum Hafen der Schnellboote. Diese sollten tatsächlich nicht fahren, aber es wurde für den nächsten Tag eine Fahrt mit einem kleineren Boot, welches normal für Angeltouren genutzt wird, angeboten. Na geht doch. Wir gingen nun zurück in die Stadt und kämpften uns mit der Marshrutka zum Bahnhof durch. Dort schnappten wir uns ein Taxi und ließen uns in den Norden von Petrozavodsk bringen. Es gibt auf dem örtlichen Friedhof eine Gedenk- und Grabesstätte für deutsche Kriegsgefangene, die vor einigen Jahren vom 'Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge' angelegt wurde. Was dieser gemeinnützige Verein in der Sache des Gedenkens und der Totenruhe für im Krieg Gefallene leistet ist übrigens beachtlich.
Einen Lageplan gibt es am Eingang des unübersichtlichen Friedhofes leider nicht. Aber einen Steinmetz-Betrieb. Dort sprach ich vor. Ich hatte mir vorher eingeprägt, was Friedhof auf russisch bedeutet und fragte nach dem 'nemeckiy kladbishche'.
Sofort bedeutete uns ein junger Mitarbeiter uns zu folgen und führte uns kreuz und quer zwischen den chaotisch angelegten orthodoxen Gräberfeldern zum gewünschten Ort. Spasiba! Die Fläche ist schlicht gehalten. Es ist prinzipiell nur eine einfache Rasenfläche. Es gibt einen Gedenkstein und ein einfaches Kreuz, dass von Stelen mit den Namen der Gefangenenlager, die sich in Karelien befunden haben, flankiert wird. Außerdem wurde ein Gedenkstein für russische und einer für ungarische Gefallene aufgestellt. Die Anlage wird offenbar nicht sehr häufig oder nicht sehr intensiv gepflegt, denn zwischen den Pflastersteinen der Wegflächen sucht sich schon die Natur ihren Weg. Uns blieb es nur ein mitgebrachtes Grablicht am Gedenkstein zu platzieren. Als Nichtraucher hatten wir Schlauberger natürlich keine Feuerquelle dabei und auf orthodoxen Gräbern sind Grablichter nicht vorhanden, so dass wir die Kerze nicht einmal entzünden konnten. Auf dem Gedenkstein lag eine noch recht frische rote Nelke. Viele Personen mit ähnlicher Intention wie wir werden sich kaum dorthin verirren - wer die Blume wohl dort hingelegt hatte?
Wir bewegten uns zu einer Bushaltestelle zurück und passierten dabei eine verlassene Fabrik. Diese vor sich hin welkenden Industriebauten in den ehemaligen Sowjet-Republiken üben ja eine gewissene melancholische Faszination aus. Lenin ist auch immer wieder präsent.
Das Fahrtziel des einfahrenden Busses herauszufinden war auch nur mit Gebärdensprache möglich. Es ging schon auf halb drei zu, so dass wir uns direkt zum Stadtarchiv aufmachten. Als wir dort eintraten, wollte ich dem Pförtner unsere Mission erläutern aber er unterbracht mich sofort und bedeutete mir, dass er schon Bescheid wüsste. Einen Anruf seinerseits später holte uns Maria ab, eine junge hübsche Dame, die als Dolmetscher fungieren sollte. Im Büro der Direktorin erwartete uns nicht nur diese, sondern noch eine weitere Mitarbeiterin, so dass wir nun eine Fünfer-Runde bildeten. Ich erläuterte noch einmal, worum es uns ging. Ich will da jetzt nicht ins Detail gehen, weil es für den Großteil der Leser schlicht uninteressant ist, aber ich fand es erneut unfassbar, wie bemüht und hilfsbereit sich die drei innerhalb unseres etwa einstündigen Besuches zeigten. Da kommen zwei Fritze und fragen nach dem Schicksal deutscher Soldaten in Russland. Okay, man muss da wohl den Individual- und Generationsfaktor einrechnen, aber auch wenn der Russe uns am Ende überrannt und sicherlich auch keine saubere Weste dabei hat, wurde er von Deutschland schlicht und ergreifend brutal überfallen, so dass mich eine reserviertere Haltung nicht überrascht hätte. Ich finde es durchaus bemerkenswert, dass beide Völker in der heutigen Zeit relativ ungezwungen mit der Kriegsgeschichte umgehen und bereit sind, sich (symbolisch) die Hand zu reichen. Ich bin auch absolut der Meinung, dass alle vernünftig denkenden Völker der Erde (ideologisch oder religiös verlorene also ausgenommen) in Frieden miteinander auskämen, wenn nicht machtbesessene politische Führungen realitätsfremde territoriale Ansprüche stellen würden.
Bisher ein wirklich sehr interessanter und ereignisreicher Tag. Um mal etwas runter zu kommen wäre ein Fußballspiel gar nicht schlecht. Ups, da war doch was... Erst einmal war noch Zeit für einen Kaffee und dann latschten wir die paar hundert Meter zum 'Respublikanskiy Stadion Spartak'. Dieses ist genauso ein Kessel, wie es dem Namen nach klingt.
Ein richtig fettes Ding für 20tsd Zuschauer bietet die sozialistisch angehauchte Schüssel. Nur zwei Prozent der Kapazität war allerdings heut gefordert. Wie eigentlich immer, denn mehr als 3-400 Zuschauer lockt der FK Karelia kaum an. 100 Rubel kostete der Zutritt - also 'unverschämte' 1,30 Euro - wofür man eine richtig schöne Eintrittskarte erhielt. Wichtig auch, dass am Eingang eine Metallschleuse wie am Flughafen platziert war, es aber eh keinen juckte, ob das Ding nun meckerte oder nicht, wenn man es durchschritt.
Prinzipiell kann man die Frage stellen, wofür es ein derart großes Stadion in der Stadt gibt, denn der FK Karelia - erst 2011 gegründet - und seine Vorgängervereine haben nie erstklassig gespielt. Mir war es natürlich recht. In der West-Gruppe der drittklassigen '2.Divison' empfing der FK Karelia als Verletzter das Team aus Smolensk, eine Truppe aus dem Tabellen-Mittelfeld. Ernsthafte Abstiegssorgen muss sich Karelia nicht machen, da nur der letzte die Liga verlassen muss und dieser bereits hoffnungslos abgeschlagen ist. Eine Gruppe von knapp zehn Leuten unterstützte die Heim-Mannschaft. Deren fünf supporteten die Gäste. Dass diese tatsächlich aus Smolensk angereist waren, mag ich aber bezweifeln - bei 1.100 Kilometern Entfernung auf einem Montag. Das Spiel war natürlich kein Leckerbissen, ließ sich aber durchaus ansehen. Tore fielen leider keine.
Das sportliche Highlight hatte uns hungrig gemacht, daher suchten wir nach einem angemessenen Etablissement, um unsere Mägen Befriedigung zu verschaffen. Ein typisches Souterrain-Lokal erweckte unsere Aufmerksamkeit. Dieses stellte sich als finnisches Restaurant heraus und die etwas gelangweilte Bedienung hatte erst einmal eine unangenehme Überraschung für uns parat.
Bei der Bestellung eines Bieres erfuhren wir, dass es ausschließlich 'Warsteiner' gibt. Unfassbar und dazu war die Import-Brühe natürlich total überteuert. Aber überhaupt hatten (wir an örtlichen Verhältnissen gemessen) eine relativ hochpreisige Butze ausgesucht, dessen Preisstruktur etwa im Rahmen eines Mittelklasse-Restaurants lagen. Außer uns war auch nur ein weiterer Tisch belegt, dessen Besatzung auch eher nach Besserverdienern aussah, die alles mögliche an Speisen und reichlich Vodka anschleppen ließ. Nun musste noch ein einheimisches Kaltgetränk her. Auf dem Weg hatte ein etwas spezielleres Lokal meine Neugier geweckt, dass allerdings völlig untypischer für Karelien war. Nämlich ein Brauhaus im bayrischen Stil. Zu allem Überfluss tönte tatsächlich deutsche Volksmusik und Vergleichbares aus den Boxen. Zumindest gab es hier neben diversen deutschen Import-Brausen auch einheimisches Bier. Warum der Laden allerdings 'Neubrandenburg' heißt, das ja bekanntermaßen ein paar Meilen nördlich des Weißwurst-Äquators liegt, erschloss sich mir erst nach späterer Recherche, denn Neubrandenburg ist eine Partnerstadt von Petrozavodsk. Wir liefen in aller Ruhe zurück zum Hotel und schauten uns schon kurz danach von innen an.
Di. 17.05. - Kishi
7:30 Uhr bimmelte schon der Wecker. Und das soll Urlaub sein? Nach der Körperpflege wurde hektisch gefrühstückt, dann die Sachen zusammengepackt und um Gepäckraum des Hotels eingelagert. Dann trennten sich kurz die Wege meines Vaters und mir, denn während er schon mal in aller Ruhe Richtung Hafen schlurfte, hetzte ich zum Geldautomaten, um frische Devisen zu holen. Dort war dann die maximale Ausgabegröße 3000 Rubel. Was für ein Blödsinn, so musste ich drei Auszahlungen nacheinander vornehmen. Eine Betrags-Obergrenze macht doch auch nur Sinn, wenn ich nicht sofort danach wieder Kohle ziehen kann. Im kleinen Büro am Hafen traf ich dann neben der Agentur-Tante auf meinen Dad, eine ältere Dame und einen Mann mittleren Alters. Letzterer stellte sich dann als Bootsführer raus, der uns auf die Insel Kishi bringen sollte und er fungierte wohl als Sub-Unternehmer. Da das Boot nicht für Angelfahrten gebraucht wurde, suchte er sich eine alternative Einnahmequelle. Es kam noch ein junges Paar dazu und dann konnte es losgehen.
Eigentlich dachte ich, wir würden hier nun in ein Boot springen und ab geht's, aber stattdessen verfrachtete uns der Capt'n in seinen Pkw und wir fuhren zu einem anderen Hafen, der eher an einen Schiffsfriedhof erinnerte. Von dort stachen wir aber dann wirklich in See. Mit 4000 Rubel pro Person, knapp 54 Euro - wir zahlten keinen Ausländer-Bonus, wie ich feststellen durfte - war die Geschichte ja alles andere als günstig, aber wir hatten uns den Trip vorgenommen und wollten die Insel gerne erleben. Abgesehen davon unterlag diese Reise ja eh nicht den üblichen Low-Budget-Gesetzen, sondern "alles mitnehmen, was geht" war die Devise. Das kleine Boot, das mit uns sechs Personen schon ausgelastet war, ging ganz gut nach vorne. Das GPS zeigte 27 Knoten, knapp 50 Sachen, und so waren wir nach den prognostizierten 75 Minuten am Ziel. Kishi ist ein Freilichtmuseum, das jährlich von vielen tausend Besuchern angesteuert wird. So macht auch jedes über den Onegasee schippernde Fluss-Kreuzfahrtschiff an der Insel fest.
Der Eintritt war mit 250 Rubeln pro Person sehr fair. Ohne weitere Kosten bekamen wir eine Führerin gestellt, eine schon etwas ältere Dame, die exzellentes Englisch sprach. Der wichtigste Ort auf der sieben Kilometer langen und maximal einen halben Kilometer breiten Insel ist das Kirchen-Ensemble mit dem Glockenturm. Seit 1990 zählen diese Gebäude zum UNESCO-Weltkulturerbe. Das ganze Ensemble trägt den Namen Verklärungskirche. Das größere der beiden Gotteshäuser, die sogenannte Sommerkirche stammt aus dem Jahr 1714.
Auffällig sind die 22 Kuppeln, die der Kirche etwas märchenhaftes verleihen. Weil die Bewohner der Insel aber auch in der kalten Jahreszeit Gottesdienste abhalten wollen, bauten sie 1764 die Winterkirche, die deutlich kleiner, dafür aber beheizbar ist. Die Sommerkirche wird derzeit aufwändig restauriert und kann leider nicht betreten werden. In der Winterkirche befindet sich eine prächtige Ikonostase. Danach bekamen wir noch ein typisches karelisches Bauernhaus mitsamt
der dazu gehörigen Infrastruktur aus Lägern und Banja, der russischen Variante der Sauna, erklärt. Weiter ging es zu einer kleinen Kapelle und dort endete die geführte Tour. Von dort an konnten wir uns frei über die Insel bewegen. Als nächstes sahen wir uns die letzte existierende von ehemals zwölf Bockwindmühlen an. Diese Art Windmühle steht auf einem drehbaren Gestell, so dass die Flügel immer in den Wind gedreht werden können. Dann schauten wir noch ein paar andere Häuser an, anhand derer zum Teil auch die Bauweise erläutert wird. Bis auf das Kirchen-Ensemble und die Mühle stammen alle Gebäude von umliegenden Inseln, wurden dort ab- und auf Kishi wieder aufgebaut. Sämtliche Gebäude auf der Insel sind übrigens aus Holz erbaut. Gegen 15:00 Uhr ging es wieder zurück nach Petrozavodsk. Kishi entpuppte sich jetzt nicht als der Oberkracher und die Investition war dafür schon etwas hoch, aber sehenswert war es auf jeden Fall.
Wir holten unser Gepäck aus dem Hotel und fuhren mit dem Taxi zum Bahnhof (140 Rubel, nicht einmal zwei Euro). Ich besorgte uns noch Proviant für die knapp fünfstündige Fahrt, die um Punkt 18:00 Uhr begann. Im richtig modernen Schnellzug hatten wir dann zunächst Probleme mit unseren Tickets. Die Buchungs-Maske der russischen Bahn-Website war auf zweiteilige Nachnamen nicht ausgelegt, bzw es wurde schlecht erläutert, was man in welches Feld setzen musste, so dass auf den gedruckten Tickets die Präposition unseres Nachnamens hinter den Vornamen erschien. Zusätzlich muss man aber auch seine Ausweisnummer angeben, die ebenfalls auf dem Ticket erscheint, so dass Verwechselung oder Beschiss ausgeschlossen sind. Mir war sofort klar, was die Kontrollski-Tante von mir wollte, als sie Tickets und Ausweise abglich. Mangels gemeinsamer Sprachkenntnisse konnte sie sich aber nicht erklären. Also dackelte sie ab und kam wenig später mit eine höher gestellten Kollegin wieder, die aber auch nicht der englischen Sprache mächtig war. Mit Hilfe ihres Smartphones versuchte sie mühsam zu übersetzen. Eine nach Business-Frau aussehende jüngere Dame am Nebentisch sprach ein wenig Englisch und half als Übersetzerin aus. Dabei war das Problem ja klar, obwohl es eigentlich keines war. Hätte das Zugpersonal darauf bestanden, neue Tickets zu lösen, hätte ich ein Fass aufgemacht, aber schließlich blieb es bei dem Hinweis bei der nächsten Buchung die Namen bitte richtig einzugeben. Ich möchte betonen, dass alle Beteiligten stets freundlich und bemüht waren, dass 'Problem' aus der Welt zu schaffen. Nicht so freundlich war der Security-Kanisterkopp, der uns mitteilte, dass es verboten sei im Zug Bier zu trinken und dass er ein Auge auf uns haben wird. Vollidiot, wenn es keine internationalen Hinweise im Zug gibt, dass Alkoholkonsum verboten ist, woher soll man es dann wissen. Zumindest war mit dem ganzen Hickhack die erste Stunde der Fahrt schon mal rum. Fortan ging es fast ausschließlich durch Waldgebiete, mal durch kleine unbewaldete Ebenene, über Flüsse, an kleinen Siedlungen vorbei. Fünf oder sechs Stopps gab es, dann erreichten wir in den letzten Lichtstrahlen der Dämmerung den 'Ladozshky' in Sankt Piter. Nach ein paar branchenüblichen Verhandlungen mit der Taxi-Mafia kamen wir dann im 'Hotel Ladoga' an und konnten - nachdem wir eine von diesen unfassbar unorganisierten und nervigen Asiaten-Reisegruppen umschifft hatten - unser letztes Nachtquartier beziehen.
Mi. 18.05. - Heimreise
Nach nur fünfeinhalb Stunden Schlaf schellte schon wieder der Wecker. Um 6:15 Uhr holte uns das vorbestellte Taxi ab. 1100 Rubel kostete die Fahrt zum Flughafen, womit auch mal klar war, dass wir auf der Hinfahrt trotz Buchung am offiziellen Taxi-Schalter beschissen worden waren. Mit diesem Berufszweig werde ich mein Leben lang auf Kriegsflug bleiben. Der Rückflug war ruhig und pünktlich landeten wir wieder in der Landeshauptstadt von NRW. Den Vadder zu Hause abgeliefert und nach einer kurzen Dusche daheim traf ich zur zweiten Halbzeit des Arbeitstages in meinem Büro ein. Diese Reise war eine ganz besondere Erfahrung, natürlich vorrangig weil ich sie mit dem Patron gemacht habe. Was Russland angeht, bin ich mit diesem Land auch sicherlich noch nicht fertig. Da müssen noch mal andere Regionen entdeckt werden. Und Moskau ist natürlich auch mal einen Besuch wert.
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